Manchmal, morgens, sah ich mich und dachte, das ist nicht der, der du bist, das ist ein anderer, der du sein wirst, keiner, den man aus der Erinnerung mit sich vergleichen könnte.
Thomas Linde versucht in „Rot“ von Uwe Timm an jener Stelle sein Alter zu akzeptieren. Etwas, das seiner Ex Lena nicht gelingen mag. Zahlreiche Faceliftings hinterlassen Spuren in ihrem Gesicht. „Das polnische Billigangebot. Einfach Pfusch. Links straff, leicht asiatisch, und rechts nicht.“ Lena spielt auch nur am Rande eine Rolle in Uwe Timms Buch. Und Thomas Linde muss sich eh nicht mehr mit dem Alter herumschlagen. Der ist nämlich schon tot. Direkt auf Seite 1 wird Linde von einem Auto umgefahren, nachdem er bei Rot die Straße überquerte. Was folgt ist ein Roman in Form einer Trauerrede. Kein Zufall: Linde endete nach einem umfangreichen Studium und diversen Träumen und Aktivitäten der 68er schlussendlich als Trauerredner. Als der tödliche Unfall geschieht, fliegt ein Päckchen Sprengstoff aus seiner Tasche. Eigentlich wollte er damit die Siegessäule in die Luft sprengen, stattdessen schwebt er über der Kreuzung und legt die umfangreichste Trauerrede seiner Karriere hin. Wir erfahren, dass er ein Hirngespinst seines alten Freunds Aschenbergers umsetzen wollte, nachdem dieser kurz zuvor das Zeitliche segnete. Eine Reise in Thomas Lindes Seele, in seine rote, graue und rosarote Vergangenheit beginnt. Rot: Ein Roman in Form einer Trauerrede, ein Abgesang auf sich selbst. Ein Rückblick auf ein Leben, von einem Mann, der einst eine Revolution anzetteln wollte und der am Ende stolz ist, mit einfachen Mitteln eine sehr viel jüngere Frau als Geliebte zu gewinnen.
„Ich kann behaupten, ich habe die Aufmerksamkeit, vielleicht sogar die Zuneigung dieser Frau durch zwei Zitate erworben, Shelley und Hegel, und allein damit hat sich das Studium gelohnt, wobei gesagt sein muß, beide Zitate verdanken sich einer freiwilligen Lektüre, haben nichts mit Prüfungen und Seminarscheinen zu tun.“

Warum „Rot“ von Uwe Timm?

Uwe Timm hat mich mit seinem Roman „Rot“ sehr berührt. Als ich das Buch 2004 las, hatte ich aus unerfindlichen Gründen recht romantische Vorstellungen der 68er-Zeit. Unsere Uni-Professoren erzählten uns gar, dass die Studenten seinerzeit derart wild waren, dass beim damaligen Neubau der Uni Paderborn die Steckdosen noch über Schulterhöhe installiert wurden. Damit sie nicht vor lauter Rebellion in die Steckdosen langen. Wow! Wie unfassbar cool mussten die damals gewesen sein! Uwe Timm zeichnet in „Rot“ dann ein wohl doch reelleres Bild der 68-Generation. Ach so: Und dann sind ja noch jene zwei Zitate drin, mit der ein Mann wie Linde seine schöne Iris rumgekriegt hat, eine Licht-Künstlerin.  
Ist die Lampe erst zerschlagen, liegt im Staub tot das Licht.
 Nachzulesen in Lyrische Gedichte von Percy Bysshe Shelley
Das Licht ist das existierende allgemeine Selbst der Materie, das unendlich den Raum erst erzeugt.
Nachzulesen in Hegels Werken

Lesetipp

Gut möglich, dass dem einen oder anderen der Stil von Uwe Timm zu nüchtern ist. Wer noch kein Buch von Uwe Timm gelesen hat, der ist mit „Die Entdeckung der Currywurst“, „Der Schlangenbaum“ oder „Rot“ von Rennschwein-Rudi-Rüssel-Erfinder Uwe Timm sicher an der richtigen Adresse. Es steckt so wahnsinnig viel drin in den Büchern von dem schlauen Timm. Einfach ein guter Typ. Top Urlaubslektüre und auch ein schönes Geschenk, nicht nur für die Ü-60-Generation.
Uwe Timm: Rot, dtv

Uwe Timm: Rot

 

Details zu „Rot“ von Uwe Timm

Die Zitate sind der dtv-Ausgabe von Juli 2004 entnommen. Umschlaggestaltung: Stephanie Weischer unter Verwendung einer Fotografie von Zefa/Dr. Müller. Das Eingangszitat findest du auf S. 196.

Über Hella

Ich bin Hella. Mein Hobby ist angeln. Sätze angeln. Und die teile ich ab sofort auf meinem Blog. Ich lese schrecklich gerne und habe es in einem Urlaub schon mal auf 22 Bücher gebracht. Okay, ich gebe zu: Wir waren zehn Wochen auf Reisen. Wenn ich nicht lese oder reise, bin ich freie Autorin und Editor für einen E-Commerce-Shop. Was ich sonst noch mag: Gorgonzola, Coq au Vin, Tan Tan Men, gebratene Aubergine, Pannobile mit Käseplatte, Oum Shatt, Mittekill, Django Django, Element of Crime, Alexandra (ehrlich! voll!), Chilly Gonzales, Adam Green, Fleet Foxes, Zaz und am allerallermeisten meine wundervollen überdurchschnittlich lustigen Zwillingsmädchen.

© Die Satzfischerin

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