Wenn jeder Wassertropfen unterm Mikroskop eine ganze Welt ist, so enthält jedes Menschenleben in seiner endlichen und zufälligen Hülle ein riesiges Universum. Doch selbst wenn man sich von diesen wie unterm Mikrokop vergrößerten Vorstellungen löst, bleibt noch etwas anderes augenfällig. Jede menschliche Existenz hängt mit anderen menschlichen Existenzen zusammen, diese wiederum hängen mit noch anderen zusammen, und wenn wir diese wechselseitigen Beziehungen bis zum logischen Ende verfolgen, nähern wir uns der Gesamtzahl der Menschen, die die riesige Fläche der Erdkugel besiedeln.
Ein schweres Zitat, ein wahres vermutlich. Alles hängt zusammen und ergibt am Anfang und am Ende ein Ganzes. Unser Ich-Erzähler in „Das Phantom des Alexander Wolf“ muss dies sehr schmerzlich erfahren. In diesem Zitat erahnt er das Ausmaß aller Zusammenhänge. – „Von allen meinen Erinnerungen, von all den unzähligen Empfindunge meines Lebens war die bedrückenste, die Erinnerung an den einzigen Mord, den ich begangen habe.“ – So beginnt Gasdanow die Geschichte eines jungen Russen, der in seiner Jugend in Notwehr einen Mord beging, das prächtige Pferd des Reiters stahl und fortan mit dieser Schuld leben musste. Als er später als Journalist in Paris arbeitet, fällt ihm ein Schriftstück in die Hände, das genau diese Szene beschreibt – allerdings aus der Perspektive des Reiters. Und der heißt Alexander Wolf. Der namenlose Ich-Erzähler möchte Wolf kennen lernen, doch je näher er ihm rückt, desto mehr verschiebt sich die Perspektive auf die Schlüsselszene.

Warum dieses Buch?

Ist es überhaupt ein Buch? Oder ist „Das Phantom des Alexander Wolf“ ein großes Gemälde in vielen dunklen, schillernden und satten Farben? Während des Lesens der mit 192-Seiten vermeintlich kleinen Geschichte, zeichnet der Leser ein Bild, radiert immer wieder aus und setzt neue kleine Akzente hinzu. Dass Gasdanow als russischer Camus gilt, liegt auf der Hand.

Lesetipp

Wie bei so vielen wunderbaren russischen Romanen: Lies dieses Buch an einem dunklen Winterwochenende mit einem schweren Glas Rotwein in der Linken.

Details zu „Das Phantom des Alexander Wolf“

Die Erzählung erschien erst 2012 im Carl Hanser Verlag in München. Gaito Gasdanow schrieb es bereits 1948, doch in Deutschland wurde der Roman erst jetzt verlegt. Die „Zeit“ schreibt, dass es erst jetzt „wie eine Flaschenpost aus der Vergangenheit ans Ufer der Gegenwart gespült“ wurde. Gasdanow kam 1903 in Sankt Petersburg auf die Welt, trat der „Weißen Armee“ bei, floh schließlich nach Paris und starb 1971 in München. Rosemarie Tietze übersetzte das Buch und steuert ein ausführliches Nachwort bei.

Über Hella

Ich bin Hella. Mein Hobby ist angeln. Sätze angeln. Und die teile ich ab sofort auf meinem Blog. Ich lese schrecklich gerne und habe es in einem Urlaub schon mal auf 22 Bücher gebracht. Okay, ich gebe zu: Wir waren zehn Wochen auf Reisen. Wenn ich nicht lese oder reise, bin ich freie Autorin und Editor für einen E-Commerce-Shop. Was ich sonst noch mag: Gorgonzola, Coq au Vin, Tan Tan Men, gebratene Aubergine, Pannobile mit Käseplatte, Oum Shatt, Mittekill, Django Django, Element of Crime, Alexandra (ehrlich! voll!), Chilly Gonzales, Adam Green, Fleet Foxes, Zaz und am allerallermeisten meine wundervollen überdurchschnittlich lustigen Zwillingsmädchen.

0 Kommentare zu Gaito Gasdanow – Das Phantom des Alexander Wolf

Kommentar

© Die Satzfischerin

Scroll to Top